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Innovation der Fachstellen sexuelle Gesundheit in Zeiten von Corona

Die Dienstleistungen rund um die sexuelle Gesundheit wurden in allen Regionen der Schweiz durchgehend angeboten. Die Fachstellen haben kreative Lösungen entwickelt, um ihre Klient*innen bestmöglich zu unterstützen.

Die Krise verschärfte einerseits bestehende Probleme: Etwa die wirtschaftliche Not bei der Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen und der Verhütung oder die Hürden im Zugang zu Beratung und Dienstleistungen für Menschen in prekären Situationen (unsicherer Aufenthalt, Gewalt, Verständigungsschwierigkeiten usw.). Andererseits wurde sichtbar, wie gut die Fachstellen sexuelle Gesundheit funktionieren: Sie haben den niederschwelligen Zugang aufrechterhalten und Wege gefunden, um die Bevölkerung bei ihren Fragen und Nöten zur sexuellen Gesundheit zu begleiten. Einige der kreativen Lösungen haben das Potential, die alltägliche Praxis auch nach Corona zu verbessern. Davon sind wir überzeugt!

Erfahrungsbericht von sechs Mitgliedern von SEXUELLE GESUNDHEIT SCHWEIZ:

Sexuelle Gesundheit Aargau: Digitaler Entwicklungsschub

27.4.20

Die Coronakrise hat den Alltag bei Sexuelle Gesundheit Aargau wie bei so vielen anderen Institutionen und Firmen den Alltag ziemlich durcheinandergewirbelt. Was wir aber stets beibehalten konnten, war die Erreichbarkeit für ratsuchende Menschen.

Der digitale Entwicklungsschub, den unsere Stelle innert kürzester Zeit leisten konnte, ist beachtlich und wird sicherlich auch für die Zukunft einige Vorteile mit sich bringen. Um das Homeoffice sinnvoll nutzen zu können, musste der Zugang zum Datenserver unter allen Sicherheitsanforderungen erstellt werden. Auch die Umleitung des Telefons bzw. deren Bedienung online war ein Kraftakt, bei welchem uns die UPC sensationell unterstützt hat. Die Einrichtung verschiedener Tools für Videokonferenzen ging relativ einfach und so konnten wir schon bald mit ersten Teamsitzungen beginnen.

Wir mussten einige unserer Angebote vorübergehend einstellen. Dazu gehören die sexualpädagogischen Einsätze in Schulen und Institutionen, die Tätigkeit unserer Mediatorinnen in der Sexarbeit und das HIV-/STI-Testing.

Beratungen zu Schwangerschaft, STI und Sexualität konnten wir telefonisch durchführen. Statt eines Termins in unseren Räumlichkeiten vergaben wir Termine für einen Telefonanruf. Besondere Notfälle hätten wir unter Einhaltung der Schutzmassnahmen auch im Büro beraten können. Wir wollten aber unsere Klient*innen keinem unnötigen Risiko aussetzen und es hat niemand auf einem persönlichen Termin bestanden. Die klaren Informationen auf unserer Website halfen, dass ausser einer Ausnahme niemand unangemeldet bei uns klingelte.

Ohne die Zahlen schon ausgewertet zu haben, können wir feststellen, dass es zu einem Rückgang von Anfragen gekommen ist. Wir hoffen sehr, dass niemand ein wichtiges Beratungsgespräch aus Angst vor Corona verpasst hat. Der Rückgang betrifft vor allem die Beratungen zu STIs, etwas weniger die zu allgemeinen Schwangerschaftsthemen und kaum diejenigen zu Schwangerschaftskonflikten.

Für die Zukunft können wir sicher lernen, dass auch telefonische Beratungen oder solche per Video eine valable Option sind, vor allem bei heiklen Schwangerschaften. Den Frauen können wir so den Weg in unsere Büros ersparen. Der persönliche Kontakt bietet aber in vielerlei Hinsicht Vorteile in schwierigen Lebenssituationen und wir freuen uns darauf, wenn wir ihn wiederaufnehmen können.

Freiburger Fachstelle für sexuelle Gesundheit: Beraterinnen dürfen Pille für drei Monate verschreiben

22.4.2020

So organisierten wir uns:

  • Unsere Zweigstelle in Bulle wurde geschlossen, aber wir haben unsere gewohnten Öffnungszeiten in Fribourg beibehalten, mit einer Telefon-Permanenz und einem Empfang für Menschen, die spontan in die Fachstelle kommen. Wir bieten weiterhin Beratungen an, wenn möglich per Telefon. Zudem führten wir mehrere STI-Screenings für Patienten durch, die sehr besorgt waren. Sie waren uns besonders dankbar, da sie wussten, dass andere Stellen sie nicht empfangen hätten.
  • Wir starteten eine Zusammenarbeit mit einer Apotheke in Bulle, die Notfallkonzeption zu einem Vorzugspreis bei Situationen abgibt, die dies erfordern. Bis heute wurden drei Packungen über diesen Kanal abgegeben.
  • Unsere ärztliche Sprechstunde, die in der Regel an zwei Nachmittagen in der Woche von einer Gynäkologin abgehalten wird, konnte jedoch nicht aufrechterhalten werden. Die Beraterinnen sind derzeit jedoch befugt, für einen Zeitraum von drei Monaten - unter Verwendung eines speziell für diesen Zeitraum von COVID-19 entwickelten Protokolls – hormonelle Verhütung (Erstverschreibung) zu verschreiben oder ein Rezept um ebenfalls drei Monate zu verlängern. Diese Dienstleistung wurde sehr stark nachgefragt und geschätzt. Bei diesem Vorgehen ist es wichtig, eine Nachkontrolle der Empfängnisverhütung zu gewährleisten.
  • Alle Anfragen im Zusammenhang mit Schwangerschaft (Schwangerschaftstest, Ambivalenz-Gespräche, Gespräche zum Schwangerschaftsabbruch) wurden entgegengenommen. Bei zwei Situationen hatte COVID-19 Auswirkungen: Eine junge Patientin, die sich einem chirurgischen Schwangerschaftsabbruch unterzog, konnte keine Vollnarkose erhalten. Glücklicherweise durfte sie jedoch von ihrer Mutter ins Krankenhaus begleitet werden. Eine weitere Patientin wurde nach Payerne überwiesen, da sie dort schneller als in Freiburg behandelt werden konnte.

Unsere Fachstelle war also in der Lage, während der ganzen Zeit die aus medizinischer Sicht oder aus Sicht der Patientin für wichtig erachteten Dienstleistungen zu erbringen.

Zentrum für sexuelle Gesundheit, La Chaux-de-Fonds: Haben die Menschen keinen Sex mehr?

22.4.20

  • Ab dem 10.3.2020 haben wir ein Procedere eingeführt, wie wir die Ratsuchenden empfangen konnten: Abstand von etwa einem Meter zwischen den einzelnen Personen, regelmässiges Händewaschen usw. Ab dem 16.3.2020 verschärfte sich dieses Procedere auf einen Schlag: Wir sind in den Büros, aber der Haupteingang ist verschlossen, Ratsuchende sollten nur im Notfall an der Tür klingeln. Wir können Pillenrezepte weiterhin nach einer vorgängigen telefonischen Beratung per E-Mail oder Post versenden.
  • Am 17.3.20 sagt unser Vorgesetzter, dass wir nicht zu zweit in den Büros bleiben können. Wir organisieren uns, um die Arbeit während der Woche unter uns aufzuteilen. Wir mussten alle unsere Aktivitäten oder Treffen ausserhalb der Fachstelle einstellen
  • Die dritte Woche des «Shut down» beginnt, Telefonanrufe und Termine sind selten. Wir nutzen die verfügbare Zeit, um Akten und Dokumente zu sortieren. 6.4.20: immer dasselbe, und immer so ruhig, selbst das Telefon klingelt nicht... Wir fragen uns, ob das Leben wirklich stehen geblieben ist, ob die Menschen keinen Sex mehr haben, ob die Kondome nicht mehr reissen...
  • 17.4.20 Langsam nehmen in dieser Woche die Anrufe wieder zu. Während der ganzen Zeit konnten wir die Verschreibung von Verhütungsmitteln sicherstellen, so dass junge Mädchen sich weiterhin schützen können.
    Wir schickten eine E-Mail an alle Apotheken der Stadt, um sie an unsere Vereinbarung bezüglich der Notfallverhütung zu erinnern, Notfallkontrazeption zum gleichen Preis wie unsere Fachstelle an Jugendliche zu abzugeben, die sich diese nicht leisten könnten. Wir geben ihnen später dann eine kostenlose Packung zurück.
    Wir haben auch einige Schwangerschaftstests und Chlamydien-Gonorrhoe-Tests bei Menschen durchgeführt, die Symptome hatten, die auf eine Chlamydien-Infektion hindeuten.
  • 22.4.20 Aufgrund der Anweisung der Personalabteilung der Stadt und der Bestätigung unseres Vorgesetzten nehmen wir unsere «normalen» Konsultationen ab 27. April wieder auf. Selbstverständlich unter Einhaltung der Hygienevorschriften. Das Leben ist wieder auf Kurs…?

SIPE Beratungszentren: Notfallkontrazeption war immer erhältlich

24.4.2020

Im Wallis haben sich die SIPE-Zentren wie andere Fachstellen auch neu organisiert und sich insbesondere mit der notwendigen Ausrüstung (Handschuhe, Desinfektionsmittel, Masken) ausgestattet. Hier einige Beispiele der Entwicklungen bei den SIPE-Zentren:

  • Nach 1 Woche bis 10 Tagen der «Erstarrung» haben die Anfragen zur sexuellen Gesundheit wieder zugenommen, in Zeitlupe, aber mit wöchentlich steigender Zahl.
  • Die SIPE-Zentren blieben hauptsächlich telefonisch oder per E-Mail erreichbar und waren wie üblich nachmittags geöffnet, jedoch zunächst nur nach Vereinbarung. Wobei bei dringenden Fragen nach vorheriger telefonischer Besprechung Konsultationen vor Ort möglich waren.
  • In den SIPE-Zentren war Notfallkontrazeption erhältlich, Gespräche im Zusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch wurden durchgeführt, Nachgespräche bei besonders vulnerablen Situationen wurden geplant und einige STI-Tests für Personen durchgeführt, die bereits mehrere Wochen gewartet hatten... Die SIPE-Zentren konnten also auf unterschiedlichste Anfragen zur sexuellen Gesundheit eingehen.
  • Beratungen im Zusammenhang mit Schwangerschaft gab es sogar mehr als üblich; die Gespräche fanden per Telefon oder Skype statt: Fragen von schwangeren Frauen in Zusammenhang mit COVID-19, vermehrte Anträge auf finanzielle Unterstützung, Fragen im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Unsicherheit….
  • Bei Paarberatungen oder Beratungen im Zusammenhang mit Unfruchtbarkeit blieben wird in Kontakt mit den Menschen, und einige Beratungen haben dennoch stattgefunden (Telefon, Skype oder sogar persönlich, falls erforderlich).
  • Da das Prozedere bei Schwangerschaftsabbrüchen manchmal unvermittelt und unklar verändert wurde, haben wir jeweils mit dem Spital und einigen Ärztinnen und Ärzten koordiniert.
  • SIPE kommuniziert in dieser Krisenzeit in sozialen Netzwerken, insbesondere um daran zu erinnern, dass unsere Dienstleistungen noch immer verfügbar sind (zum Beispiel: Video auf Facebook, das Programm Les Conseils des centres SIPE auf Rhône FM oder, in Zusammenarbeit mit Gesundheitsförderung Wallis, Informationen für Jugendliche über Liebesbeziehungen auf Distanz).
  • Seit dem 27. April sind die SIPE-Zentren wie gewohnt geöffnet und folgen den offiziellen Gesundheitsempfehlungen.
  • Alles in allem sind die Menschen, die SIPE benötigen, sehr dankbar, dass sie unsere Dienste gerade jetzt in Anspruch nehmen können.

PROFA, Sexuelle Gesundheit und Familienplanung: Vereinbarung mit Apotheken

28.4.20

Homeoffice und persönliche Gespräche: PROFA hat entschieden, dass die Fachpersonen sexuelle Gesundheit und das ärztliche Personal die Beratungen von zu Hause aus durchführen. Die technischen Aspekte (Telefonanschluss, Zugriff auf die übliche Software und Dateien usw.) mussten rasch erledigt werden. Gleichzeitig wurden die Protokolle angepasst, damit sie der neuen Arbeitsrealität des Teams entsprechen.

Anfragen zur Empfängnisverhütung fanden folgendermassen statt: Frauen haben einen telefonischen Termin mit einer Beraterin zur Information, gefolgt von einer telefonischen Beratung mit dem Arzt, der Ärztin zur medizinischen Beurteilung. Das Rezept erhält die Klientin per E-Mail. Routineuntersuchungen auf STI wurden jedoch verschoben.

Meldet sich eine Frau mit verspäteter Menstruation oder einem positiven Schwangerschaftstest, erhält sie zunächst einen Termin für ein Telefongespräch mit einer Fachperson sexuelle Gesundheit. Diese koordiniert dann mit dem Arzt, der Ärztin die weitere Behandlung. In einem Telefongespräch kann der Arzt, die Ärztin entscheiden, ob die Frau untersucht werden muss. Er oder sie wird dann einen Sprechstundentermin vereinbaren, bei der Hygiene- und Patientenmanagementmassnahmen angewandt werden.

Notfallkontrazeption und Apotheken: Für Frauen unter 20 Jahren haben wir eine Vereinbarung mit 19 Apotheken im ganzen Kanton Waadt getroffen. Frauen, die zuvor ein Telefongespräch mit einer unserer Beraterinnen oder einem Arzt geführt haben, gehen mit einem Zertifikat oder einem Rezept, das sie von uns per E-Mail erhalten haben, in eine dieser Apotheken. Die Apothekerin verkauft ihr die Notfallkontrazeption zu den finanziellen Bedingungen von PROFA. Am Ende der Krise werden wir den Apothekern den Bestand an verkauften Notfallkontrazeptiva ersetzen und den Verkaufsbetrag zurückerhalten. Von dieser Initiative profitieren junge Frauen, die so ihre Notfallverhütung zu reduzierten Tarif erhalten. Aber auch die Apothekerinnen und Apotheker, die kein Vorstellungsgespräch führen müssen und somit weniger exponiert sind.

Videokonferenz: Wir halten regelmässig Teamsitzungen per Videokonferenz ab. Dies ermöglicht es, Informationen rasch zu übermitteln und unterstützt unsere Reaktionsfähigkeit. Wir bleiben miteinander in Verbindung und können uns regelmässig austauschen.

Fachstelle Lust und Frust: Die Jugendlichen, die uns brauchen, finden den Weg

27.4.2020

Seit der Schulschliessung beantworten wir die anonymen Fragen der Schüler*innen, welche zu uns in den Unterricht gekommen wären, schriftlich. Uns ist es wichtig, dass die geplanten Schulklassen ein minimales Angebot erhalten, solange keine Gruppenangebote durchgeführt werden können. Dazu kommt, dass wir keine Alternativtermine anbieten können, auch nicht im neuen Schuljahr.

Wir stellen uns bereits jetzt die Frage, wie der Unterricht danach weitergeht. Hier dürfte es in Zukunft, je nach Rahmenbedingungen in den Schulen, zu Anpassungen in den sexualpädagogischen Konzepten kommen. Wenn z.B. «nur» Kleingruppen geschult werden können, dann bedeutet dies auf der Seite der externen Anbieter*innen, dass sie mehr Ressourcen benötigen. Zeitlich, personell und schliesslich auch finanziell.

Ab dem 23.3.20 wurde Homeoffice verordnet. Lust und Frust war aber rasch klar, dass für unsere Zielgruppe der Zugang zu den Leistungen im Bereich sexuelle Gesundheit – Abgabe Notfallverhütung, Schwangerschaftstest, Beratung zu sexuell übertragbaren Krankheiten und die Pflichtberatung bei ungeplanter Schwangerschaft bei unter 16-Jährigen – gewährleistet sein muss. Gerade bei der Notfallverhütung braucht es auch in Zeiten einer Pandemie einen niederschwelligen und bezahlbaren Zugang.

In der Folge machten wir in der Stadt Zürich eine kleine telefonische Umfrage bei Apotheken, Beratungsstellen, Spitälern und Ärzt*innen. Alle angefragten Institutionen und Betriebe sprachen sich dafür aus, dass die Beratungsstelle als eine der möglichen Anlaufstellen für junge Menschen zu den Themen der sexuellen Gesundheit offenbleibt.

So kam es, dass wir die Beratungsstelle und ihr Angebot nicht einstellen mussten. Wir haben jedoch den Ablauf minimal verändert (keine Walk-in Sprechstunde mehr). Selbstverständlich arbeiten nach den Hygienevorschriften des Bundes. Auf unserer Webseite erklären wir unser Vorgehen. Dies klappt sehr gut. Wir werden zwar nicht überrannt, aber die Jugendlichen, die uns brauchen, finden den Weg.