Sexualisierte Gewalt
Sie haben sexualisierte Gewalt erlebt und wissen nicht wie weiter? Sie sind sich nicht sicher, ob es sexualisierte Gewalt war? Fürchten oder schämen Sie sich, Hilfe anzufordern? Verspüren Sie Aggressionen und fürchten, die Situation könnte eskalieren? Oder wurden Sie Zeuge/Zeugin von Gewalt? Sexualisierte Gewalt verletzt die Menschenrechte und steht in der Schweiz unter Strafe.
Sexualisierte Gewalt ist, wenn eine Person ohne ihr ausdrückliches Einverständnis gezwungen wird, sexuelle Handlungen über sich ergehen zu lassen, auszuführen oder mit diesen konfrontiert wird. Diese Gewalt kann im öffentlichen Raum stattfinden. Sie ist jedoch häufig die verborgenste Form häuslicher Gewalt. Sie betrifft alle sozialen Schichten und Altersgruppen. Die Opfer sind hauptsächlich Frauen, aber auch Männer, LGBTI*-Personen und Kinder.
Sexualisierte Gewalt ist in der Schweiz weit verbreitet. Mindestens eine von fünf Frauen über 16 geben an, bereits ungewollte sexuelle Handlungen erlebt zu haben. Mehr als eine von zehn Frauen hat schon Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen gehabt (Umfrage Amnesty international 2019). In den meisten Fällen kennt das Opfer den Täter, die Täterin.
Sexualisierte Gewalt kommt in verschiedenen Formen vor:
- Sexualisierte Gewalt mit vaginaler, analer oder oraler Penetration oder versuchter Penetration mit dem Penis, den Fingern oder einem Gegenstand. Beispiele: Vergewaltigung, Analverkehr, Fellatio, sexuelle Nötigung.
- Sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt. Beispiele: Grabschen, erzwungene Zärtlichkeiten oder Küsse, erzwungene Masturbation, Zwang zu erniedrigenden Körperhaltungen.
- Sexualisierte Gewalt ohne Körperkontakt. Beispiele: Exhibitionismus, Nötigung pornographisches Material anzuschauen, Belästigung sexueller Natur per Telefon, E‑Mail oder über soziale Medien, obszöne Gesten, Worte oder Bemerkungen, sexistische Beleidigungen, unerwünschte sexuelle Annäherungen, Voyeurismus, Aufnahme oder Verbreitung von Bildern ohne das Wissen der betroffenen Person.
Weitere Formen sexualisierter Gewalt sind Zwangsheirat, Genitalverstümmelung, sexuelle Ausbeutung (Menschenhandel und Sexgewerbe), jemanden zum Fortsetzen oder Abbrechen einer Schwangerschaft zwingen. Oder auf struktureller Ebene: die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Geschlechtsidentität oder der sexuellen Orientierung (Istanbul-Konvention).
Was sagt das Schweizer Recht?
Es ist ein Grundrecht jedes Menschen, selbst über seine Sexualität zu bestimmen:
- Sexualisierte Gewalt verletzt die Menschenrechte. Sie ist in allen ihren Formen verboten – unabhängig davon, ob die Involvierten erwachsen, minderjährig, verheiratet, unverheiratet, heterosexuell, homosexuell, bisexuell, weiblich, männlich, trans* oder intersexuell sind.
- Sexualisierte Gewalt gilt als Vergehen oder Verbrechen. Je nach Schweregrad wird sie von Amtes wegen oder auf Antrag rechtlich verfolgt. Mehrere Artikel des Schweizerischen Strafgesetzbuches (siehe Kasten unten) ermöglichen eine Bestrafung der sexualisierten Gewalt.
- Die Opfer haben Anspruch auf Unterstützung und Entschädigung gemäss Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten (OHG).
Minderjährige sind besonders geschützt
- In der Schweiz wird die sexuelle Mündigkeit mit 16 Jahren erreicht, während die zivilrechtliche Volljährigkeit ab 18 Jahren besteht. Zum Schutz von Kindern und Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr sieht das Gesetz besondere Schutzmassnahmen vor. Zum Beispiel: Gefährdung der Entwicklung Artikel 187 StGB und 188 StGB, Pornografie (Art. 197 StGB).
- Beträgt der Altersunterschied zwischen Personen, die an sexuellen Handlungen beteiligt sind, mehr als drei Jahre und ist die jüngere Person unter 16, macht sich die ältere Person strafbar.
- Sexuelle Handlungen zwischen einer minderjährigen Person im Alter zwischen 16 und 18 Jahren und Personen, zu denen der junge Mensch in einem Abhängigkeitsverhältnis steht, sind verboten. Beispiele: Lehrperson, Trainer*in, Chef*in, Gruppenleiter*in usw.
Sind Sie von sexualisierter Gewalt betroffen?
Ich bin betroffen von sexualisierter Gewalt
Wenn Ihnen sexualisierte Gewalt widerfahren ist, kann das zahlreiche lähmende Gefühle auslösen: Verwirrung, Isolation, Schuldgefühle, Scham, Angst, Trauer usw. Vielleicht fühlen Sie sich dadurch unfähig etwas zu unternehmen.
- BLEIBEN SIE NICHT ALLEIN! Sprechen Sie mit einer Vertrauensperson oder vereinbaren Sie eine Beratung auf einer Fachstelle. Sie sind weder schuld, noch dafür verantwortlich, was Ihnen widerfahren ist.
- Sie können sich an eine Opferberatung oder eine Fachstelle für sexuelle Gesundheit wenden. Die Beratungen sind kostenlos und vertraulich.
Falls Ihnen vor kurzem ein Übergriff oder eine Vergewaltigung widerfahren ist:
- Suchen Sie umgehend (innerhalb von 48 Stunden nach dem Vorfall) eine ärztliche Fachperson oder ein Krankenhaus auf. Dort werden Sie auf Verletzungen untersucht und notfallmässig versorgt. Der Übergriff wird dokumentiert und eine Bescheinigung wird ausgestellt (bitte aufbewahren). Bei Bedarf erhalten Sie ein Medikament zur Notfallverhütung oder um eine Übertragung von HIV abzuwenden.
- Sie können sich auch an die Polizei wenden.
- Wenn die Gefahr weiterhin besteht, suchen Sie einen sicheren Ort oder eine Notunterkunft auf.
Notfallkontakte
Ambulanz: Tel. 144
Polizei: Tel. 112
Dargebotene Hand: Tel. 143
Notaufnahme der Spitäler oder medizinische Notfallzentren in Ihrer Region.
Ich habe Angst davor, selbst sexualisierte Gewalt auszuüben oder habe es bereits getan
Ihre Gefühle oder Verhaltensweisen beunruhigen Sie. Sie sind sich bewusst, dass sie nicht angemessen sind und haben Angst, die Kontrolle zu verlieren. Sie schämen sich und leiden unter diesen Verhaltensweisen und deren Folgen.
LASSEN SIE SICH HELFEN! Sie können sich an eine Fachstelle für gewaltausübende Personen oder an eine Fachstelle für sexuelle Gesundheit wenden. Geschultes Personal wird Ihnen helfen, mit Ihren Gefühlen umzugehen, Sie unterstützen und Sie gegebenenfalls weiterverweisen.
Ich bin Zeuge von sexualisierter Gewalt
Wenn Sie Zeugin oder Zeuge von sexualisierter Gewalt werden, versuchen Sie das Opfer so gut wie möglich zu schützen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Rufen Sie in dringenden Notfällen die Polizei!
Wenn Sie Zeuge oder Zeugin von sexualisierter Gewalt geworden sind oder wissen, dass eine Person in Ihrem Umfeld sexualisierte Gewalt erlebt hat, möchten Sie sich vielleicht jemandem anvertrauen. Lassen Sie sich beraten, um selber Hilfe zu bekommen oder um die betroffene Person unterstützen zu können.
Sie können eine Fachstelle für sexuelle Gesundheit kontaktieren. Ihr Anliegen wird absolut vertraulich behandelt.
Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz
Weibliche Genitalbeschneidung (Female Genital Mutilation/Cutting FGM/C) ist auch in der Schweiz ein Thema. Das Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz bietet Informationen, praktische Hilfestellungen und Tipps sowie Vernetzung und Beratung. SEXUELLE GESUNDHEIT SCHWEIZ ist eine der drei Trägerorganisationen dieses Netzwerks.
«Aktualisierte Empfehlungen zu FGM/C: Was gibt es Neues?», Fachmagazin Obstetrica - März 2024
Jahresbericht 2023 des Netzwerks gegen Mädchenbeschneidung Schweiz
Interdisziplinäre Empfehlungen für Gesundheitsfachpersonen - August 2023
Kontakte für Betroffene
Das Sexualstrafrecht
- «Strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität» werden in den Artikeln 187 bis 199 des Strafgesetzbuches behandelt. Zum Beispiel sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB), Vergewaltigung (Art. 190 StGB), Pornografie (Art. 197 StGB) oder sexuelle Belästigung (Art. 198 StGB).
- Strafbare Handlungen, welche die Entwicklung von Minderjährigen gefährden, werden insbesondere in Artikel 187 StGB und Artikel 188 StGB behandelt.
- Die Artikel 191 StGB, 192 StGB und 193 StGB beziehen sich auf urteilsunfähige oder zum Widerstand unfähige Personen, Personen die sich in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden (hospitalisierte, verwahrte oder inhaftierte Personen) oder Personen in einer Notsituation.
- Die Verstümmelung weiblicher Genitalien ist nach Artikel 124 des Schweizerischen Strafgesetzbuches strafbar. Sie gilt als Vergehen gegen Leib und Leben. Sie wird auch in Artikel 123 des Schweizerischen Strafgesetzbuches als Körperverletzung anerkannt.
- Zu den «Verbrechen gegen die Freiheit» gehören z.B. gemäss Artikel 181a des Strafgesetzbuches die Zwangsheirat oder die erzwungene eingetragene Partnerschaft.
- Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung sind seit dem 01.01.2020 explizit verboten und werden in Art. 261 bis StGB behandelt.
Fachinformationen
Websites für Fachpersonen:
Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann
Seit dem 1. Januar 2019 ist jede Fachkraft, die in regelmässigem Kontakt mit Kindern oder Minderjährigen steht, verpflichtet, jeden Verdacht auf sexuellen Missbrauch der Kinderschutzbehörde zu melden. (Art. 314d ZGB)